.hist2011 – Geschichte im digitalen Wandel

Podiumsdiskussion I: Geschichte und ihre digitale Fachinformation: Welche Infrastrukturen brauchen die Geschichtswissenschaften?

Teilnehmer: Dirk van Laak (Universität Gießen), Martin Rethmeier (Oldenbourg-Verlag), Ulrich Johannes Schneider (Universitätsbibliothek Leipzig)

Moderation: Wilfried Nippel (Humboldt-Universität zu Berlin)

 

Dirk van Laak: Thesen zum Vortrag

Wo von ‚Infrastrukturen’ die Rede ist, geht es meist um Ausweitung und längerfristige Festlegung, insofern ist die um sich greifende Rede von den „Forschungsinfrastrukturen“ eher Ausdruck einer erfreulichen Aufmerksamkeit.

Der Wissenschaftsrat ist bei seinen Empfehlungen in Bezug auf die Geschichtswissenschaften eher unkonkret geblieben. Es scheint jedoch eine grundlegende Spannung zwischen dem top-down-Ansatz des Wissenschaftsrats und der pluralistischen bottom-up-Entwicklung im Bereich der digitalen Medien zu bestehen.

Eine zusätzliche Spannung besteht zwischen dem Bedürfnis zu einer steuernden und kontrollierenden Harmonisierung der zahlreichen Experimente im Feld digitaler Medien einerseits, ihrer kreativen und dezentralen Heterogenität andererseits, die auch als Ausdruck einer fortschreitenden „Demokratisierung“ des Umgangs mit Geschichte zu verstehen ist. Die „schwärmende“ Denkweise des vernetzten Wissens generiert neue Horizonte, neue historische Fragestellungen und assoziativere Zugriffsweisen, verlangt aber auch nach einer fortgesetzten Diskussion von Qualitätskriterien.

Die infrastrukturellen Bedürfnisse der Geschichtswissenschaft (Zeit, Geld, gute Leute) haben sich nicht grundlegend geändert. Den enorm erleichternden und beschleunigenden Effekten der Digitalisierung stehen auch Nachteile gegenüber: die Notwendigkeit erhöhter Medienkompetenz, die Problematik der Datensicherheit und des Plagiatsanreizes sowie die bisweilen (zeitlich wie freiheitlich) einschränkenden Sogeffekte von Großprojekten der digitalen Dokumentarisierung.

Ullrich Johannes Schneider: Thesen zum Vortrag

Bibliotheken unterstützen Forscherinnen und Forscher a) in der Recherche, b) beim Produzieren von Text und c) beim Publizieren. Die digitale Revolution befähigt Bibliotheken in allen drei Bereichen zu neuer Qualität.

Das betrifft vor allem die Recherche (a). Bibliotheken bieten Material für Forschung in den historischen Disziplinen. Dieses Material war traditionell nach Medientypen unterschieden und koexistiert nun im Netz gleichberechtigt nebeneinander: Retrodigitalisierte Handschriften auf Papyri, Ostraka, Pergament und Papier neben Drucken und elektronischen Editionen. Dabei können digitale Editionen die Fragmentierung des Ausgangsmaterials überwinden (siehe www.codex-sinaiticus.net) oder Mehrsprachigkeit im Zugang bieten, wie sie zuvor im Druck kaum möglich war (siehe www.islamic-manuscripts.net). Auch Bilder rücken als Quellen stärker neben die Texte, sobald sie digital zirkulieren können.

(b) Bibliotheken helfen den Forscherinnen und Forschern durch eine bestimmte Infrastruktur (Räume, Geräte), und sie helfen bei der Navigation durch digitale Welten. Die Kompetenzen der Bibliothekare müssen sich verändern, was um die alten Serviceleistungen des Druckzeitalters auf die Bedingungen der neuen Technik einzustellen.

(c) Bibliotheken beraten beim Publizieren digitaler Werke auf Publikationsservern und stehen vor der Herausforderung, eigenes Know-how dafür zu entwickeln.

Fazit: Die Rolle der Bibliotheken für die historische Forschung verändert sich dort am stärksten, wo Dienstleistungen nicht vor Ort gegeben werden (b und c), sondern die Digitalisierung der Quellen selbst betreffen (a).

Martin Rethmeier: Thesen zum Vortrag

[Folien zum Vortrag...]

These 1
Die Forschungslandschaft in den Geschichtswissenschaften ist durch Dezentralität und Vielfalt gekennzeichnet. Das gilt korrespondierend für die fachwissenschaftliche Publikationslandschaft.
Diese Vielfalt und Lebendigkeit im Wettbewerb ist für das Fach wie für seine Wahrnehmung und Rolle in der Öffentlichkeit bisher nicht von Nachteil gewesen.

These 2
Geschichtswissenschaftliche Verlage sind auf die Anforderungen digitaler Forschungsstrukturen ausgerichtet. Sie stellen Infrastruktur, Service und Know-how für digitale Publikationen ebenso bereit wie für die traditionellen Produktionsformen.
Dabei erschöpfen sich die E-Publishing-Aktivitäten nicht im bloßen Faksimilieren gedruckter Vorlagen und beschleunigter Bereitstellung von Forschungsbeiträgen.

These 3
Das Know-how und die nachweisliche Kompetenz geschichtswissenschaftlicher Fachverlage in Aufbau und Pflege dauerhafter Publikations- und Diskursangebote wird von den Betreibern digitaler Forschungsstrukturen bisher wenig in Anspruch genommen.

These 4
Der parallele Aufbau identischer Infrastrukturen, Services und Prozesse in den universitären wie außeruniversitären Forschungseinrichtungen bindet finanzielle und personelle Ressourcen, die für die Forschung nicht zu Verfügung stehen.

These 5
Eine dauerhafte Sicherung der digitalen Infrastrukturen gemeinsam mit den Fachverlagen gewährleistet auch die Sicherstellung der Dezentralität, Vielfalt und Qualität der geschichtswissenschaftlichen Forschungslandschaft.

Zu den Personen

Dirk van Laak, geb. 1961, studierte Germanistik und Geschichte in Essen, wurde 1993 bei Lutz Niethammer an der Fernuniversität Hagen promoviert, arbeitete am Nordrhein-Westfälischen Hauptstaatsarchiv in Düsseldorf, bevor er 1993 als Assistent, später Oberassistent, an die Friedrich-Schiller-Universität nach Jena wechselte, wo er sich 2001 habilitierte. 1995/96 war er Gastprofessor in Chicago, 2003/03 Vertretungsprofessor in Tübingen, 2003/04 Vertretungsprofessor in Freiburg. Seit 2007 ist er W3-Professor für Zeitgeschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen.

Ulrich Johannes Schneider ist Direktor der Universitätsbibliothek Leipzig und Professor für Philosophie am Institut für Kulturwissenschaft der Universität Leipzig, arbeitet zur Wissensgeschichte und zur Veränderung der Bibliotheken durch die Digitalisierung.

Martin Rethmeier: Klassisches 70er-Jahre-Studium der Politikwissenschaften, Soziologie und Germanistik, Staatsexamen, Berufseinstieg 1984 als freier Lektor bei Rowohlt (rororo aktuell), danach Programmleitungen bei Dietz Nachfolger (Bonn) und ab 1994 im Fischer Taschenbuch Verlag (Frankfurt). 2001 Bereichsleitung Geisteswissenschaften bei Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen), seit 2010 in gleicher Funktion beim Oldenbourg Verlag in München. Betreuung (zeit)historischer Buchprogramme und Fachzeitschriften seit 1985, Mitglied im Historikerverband, und bei Clio-online von Beginn an im Beirat.

Kontakt

Prof. Dr. Dirk van Laak
Historisches Institut
Justus-Liebig-Universität
Otto-Behaghel-Str. 10 c
35394 Gießen
Tel: +49 (0)641-9928134/-131
E-Mail: Dirk.van.Laak@geschichte.uni-giessen.de

Prof. Dr. Ulrich Johannes Schneider
Direktor, Universitätsbibliothek Leipzig
Beethovenstr. 6
04107 Leipzig
Web: http://www.ub.uni-leipzig.de/schneider

Martin Rethmeier
Leitung Geisteswissenschaften
Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH
Rosenheimer Str. 145, D-81671 München
E-Mail: martin.rethmeier@oldenbourg.de
Web: http://www.oldenbourg-verlag.de