Lebenswelten, Erfahrungsräume und politische Horizonte der ostpreußischen Adelsfamilie Lehndorff vom 18. bis in das 20. Jahrhundert

Von

Gaby Huch

Das an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften im Zentrum Preußen – Berlin bearbeitete Forschungsprojekt „Lebenswelten, Erfahrungsräume und politische Horizonte der ostpreußischen Adelsfamilie Lehndorff vom 18. bis in das 20. Jahrhundert“ (gefördert durch die Bundesministerin für Kultur und Medien) wurde 2019 abgeschlossen. Als Ergebnis liegen eine umfangreiche wissenschaftliche Online-Auswahledition (https://lebenswelten-lehndorff.bbaw.de) und eine monographische Studie (https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:kobv:b4-opus4-33708) vor, die ein quellenfundiertes Bild vom Leben und Handeln des ostpreußischen Adels in der Neuzeit vermitteln. Damit steht erstmals umfangreiches Material für eine Kulturgeschichte dieser ostpreußischen Adelsfamilie zur Verfügung, das der Forschung zur ostpreußischen Adelslandschaft neue Impulse verleiht und einen Beitrag zur ostpreußischen und ostmitteleuropäischen Adelsgeschichte leistet. Das Projekt „Lebenswelten, Erfahrungsräume und politische Horizonte der ostpreußischen Adelsfamilie Lehndorff vom 18. bis in das 20. Jahrhundert“ ist eingebettet in das Forschungsfeld der ostpreußischen und ostmitteleuropäischen Adelsgeschichte. Die Lehndorffs waren neben den Dönhoffs und den Dohnas über Jahrhunderte hinweg fester Bestandteil der durch ethnisch-sprachliche, konfessionelle und kulturelle Vielfalt gekennzeichneten preußischen Adelsregion mit zahlreichen Schnittstellen nach Litauen und in das Baltikum, nach Polen und nach Russland. Mit ihrer ländlichen Lebenswelt in Steinort, dem Zugang zum Hof in Warschau, dann in Berlin, ihren amtlichen und politischen Kontakten, beruflichen Laufbahnen in Militär und Diplomatie, Heiratskreisen, ihrem sozialem Engagement, mit Repräsentation, Geselligkeit und nicht zuletzt Kulturkonsum stehen sie exemplarisch für den grundbesitzenden ostpreußischen Adel. Auch sie mussten sich mit den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandlungsprozessen des 18. und des 19. Jahrhunderts und dem Verlust traditioneller Orientierungen auseinandersetzen. Im Zweiten Weltkrieg auseinandergerissen, wird das Archiv der Grafen von Lehndorff heute an drei Archivstandorten, im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin, im Staatsarchiv Leipzig und im Staatsarchiv Allenstein (Archivum Państwowe w Olsztynie), verwahrt. Die im Guts- und Familienarchiv überlieferten Briefe und Aufzeichnungen dokumentieren die Geschichte der Familie über den Zeitraum vom 13. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Nur ein Teil der Gesamt-Überlieferung, zeitlich beschränkt auf das 18. bis 20. Jahrhundert, inhaltlich eingegrenzt durch entlang des Projektthemas entwickelte Auswahlkriterien, konnte im Rahmen des Projektes einbezogen werden. Dokumente aus anderen Archiven ergänzen die Quellenlage insbesondere dort, wo die Überlieferung des Familienarchivs heute fehlt. Diese Quellen gewähren Einblicke in adliges Selbstverständnis, regionale und nationale Identität, gelebte Adelskultur, kollektive Erfahrungen und Wahrnehmungen. Zudem ermöglicht die enge Verflechtung der Familie mit dem polnischen, baltischen und russischen Raum den Blick über Region und Nation hinaus. So lässt sich anhand der Quellen das Spannungsfeld zwischen standesgebundenen und individuellen Lebensvorstellungen der Familie auf dem Weg in die Moderne in den Blick nehmen. Die aus dem reichen Quellenmaterial ausgewählten Dokumente – private Korrespondenz und Briefe zur Verwaltung der Güter, Testamente und Erbauseinandersetzungen, königliche Edikte und amtliche Schreiben, Statistiken und Inventare, Denkschriften, Instruktionen, Zeitschriftenartikel und Tagebücher – bilden in vielfältiger Weise das Leben und Wirken der adligen Familie Lehndorff auf dem Gutsbesitz Steinort (Sztynort) in Ostpreußen, in Königsberg und Berlin vom 18. bis in das 20. Jahrhundert ab. Sie berühren Besitz und Familienbeziehungen, politische, militärische, ökonomische, soziale Tätigkeiten sowie kulturelle, genealogische und religiöse Themen. Mit der vorliegenden Online-Edition ist das Material des Guts- und Familienarchivs der Grafen von Lehndorff-Steinort nicht nur virtuell erstmals wieder zusammengeführt, sondern durch die wissenschaftliche Erschließung für die Forschung zugleich inhaltlich in einen bislang nicht verfügbaren Gesamtzusammenhang gestellt. Einleitende Texte geben darüber hinaus Einblicke in das Projekt, den Untersuchungsgegenstand und die Fragestellungen, aber auch in die Überlieferungslage der Quellen und die der Edition zugrunde gelegten Editionsprinzipien. Eine Vielzahl von Recherche- und Auswertungsmöglichkeiten und verschiedene Register ermöglichen ein komfortables Arbeiten mit den Dokumenten und Briefen. Durch die Erfassung der Metadaten in XML-TEI, die Verwendung von Normdaten (GND, GeoNames) und die Anbindung der Briefeditionen an den durch TELOTA an der BBAW entwickelten Webservice „correspSearch“ sind darüber hinaus verschiedene Möglichkeiten für die Vernetzung mit anderen Editionen gegeben. Zusätzlich aufgenommen wurden Abbildungen, da bei der Arbeit an den Akten und in der ergänzenden Literatur zahlreiche Baupläne, Karten, Gemälde, Fotos etc. aufgefunden wurden, die eine Bereicherung der schriftlichen Überlieferung darstellen. Eine Bibliographie der themenspezifischen Literatur sowie der Zugriff auf die Findmittel der Archive in Olsztyn und Leipzig bzw. auf ein durch die Bearbeiterin zusätzlich erstelltes, vorläufiges Findmittel in Berlin wurden auf der Website implementiert. Basierend auf der digitalen Auswahl-Edition rekonstruiert die Studie die Geschichte der Grafen von Lehndorff vor dem Hintergrund der allgemeinen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der Abfolge mehrerer Generationen. Die Sachgebiete, die dabei angesprochen werden, reichen von der Ansiedlung bis zur Errichtung des Herrenhauses, von adliger Herrschaftsausübung bis zum Lehnsrecht, von der Dorfverfassung bis zum Landesrecht, von der Religion bis zur Politik, von der Bildung bis zum Leben adliger Frauen. Kontinuitäten und Brüche in den Besitz- und Vermögensverhältnissen, Rückständigkeit und Modernisierungswille, Kulturbeziehungen und politische Haltungen lassen sich am Beispiel der Familie bis in das 20. Jahrhundert verfolgen, lassen aber auch durch die enge Verbindung adliger Familie in der Region und darüber hinaus „Gemeinschaftsschicksale“ erkennen.
Veröffentlicht durch

Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Erscheint

Online-Quellenedition

Sprache

Deutsch

Land

Deutschland

Redaktion
Veröffentlicht am
30.11.2020
Beiträger
Gaby Huch
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